Ausstellung PREKÄROTOPIA im Kunstbau / Lenbachhaus München

Kuratiert von Stephanie Weber

PREKÄROTOPIA
Vom utopischen Versuch gemeinsam zu verändern. Ein prekäres Singspiel von Beate Engl, Leonie Felle und Franka Kaßner

PREKÄROTOPIA ist frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden Personen sind jedoch keineswegs zufällig. Die Künstlerinnen Beate Engl, Leonie Felle und Franka Kaßner spielen Speaker, Poupée und Trickster, die im System PREKÄROTOPIA zwischen Tanzeinlage und Abrissbirne leben. Der Titel des Stücks vereint „Prekariat“* und „Utopie“ zu einer Art Kippfigur, in der zugleich Möglichkeit und Unmöglichkeit aufscheint. Auch dramaturgisch und musikalisch ist das Stück von Gegensätzen und Brüchen gekennzeichnet: Mal individualistisch vereinzelt und misanthropisch, mal in solidarischer Euphorie gegen die bestehenden Bedingungen vereint, sind die Charaktere weder statisch noch prototypisch, sondern entwickeln sich im Laufe des Stücks – aufeinander zu und aneinander vorbei. Dieser Wandel vollzieht sich nicht zuletzt bildlich: Speaker wird zunehmend eins mit ihrem wuchtigen Rednerpult; Poupées farbenfrohes Kleid ergraut nach und nach; auf dem Broiler – einem Gefährt in Brathähnchenform – meint Trickster nicht nur den Überblick, sondern auch einen trittfesten ironischen Abstand zum Geschehen zu haben.
Die insgesamt zwölf von den Künstlerinnen komponierten und verfassten Lieder– darunter gehauchtes Chanson, agitatorischer Appell und röhrender Punksong – umreißen eine Ästhetik der politisch-ideologischen Differenz und werfen Fragen über Form und Wirkung gemeinschaftlichen politischen Handelns auf. In Anlehnung an Bertolt Brechts Definition der „Bettleroper“ als Stück für, nicht über „Bettler“ versteht sich PREKÄROTOPIA nicht als
gesellschaftliche Bestandsaufnahme, sondern als Kommunikationsmittel. PREKÄROTOPIA liegt eine unorthodoxe Interpretation des traditionellen Singspiels zugrunde. Als Singspiel gilt ein meist heiteres Schauspiel mit musikalischen Einlagen. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelte es sich zum einfacheren, bürgerlichen Gegenstück der aufwändig produzierten höfischen Oper. Die breit gestreuten Vorbilder für das Stück von Engl, Felle und Kaßner reichen vom sowjetischen Künstlertheater und linksrevolutionären Arbeiterlied der 1920er Jahre über den deutschen Revuefilm und das US-amerikanische Aqua-Musical der 1950er Jahre bis hin zu Musikvideos der Neuen Deutschen Welle.

* Das „Prekariat“ bezeichnet den Teil einer Bevölkerung, der, bedingt durch unsichere Arbeitsverhältnisse, in Armut lebt oder von Armut bedroht ist.


Text: Stephanie Weber (Kuratorin für Gegenwartskunst / Lenbachhaus)